Außerdem wies Habeck darauf hin, dass es sich beim Thema Atom um eine politisch „hochaufgeladene Frage“ handele. „Diese Frage hat Generationen geprägt, hat die deutsche Politik geprägt, und insofern ist das schon eine Ausnahmesituation.“ Scholz habe in der „verfahrenen Situation“ nun einen Vorschlag gemacht, „mit dem ich arbeiten kann, mit dem ich leben kann“, sagte Habeck. „Wir mussten da irgendwie rauskommen“, fügte er mit Blick auf Streit hinzu.
Die Vorsitzenden der Grünen wiesen darauf hin, dass mit der Entscheidung ein Hauptanliegen der Partei erfüllt wird: dass keine neuen Brennstäbe beschafft werden und letztlich alle deutschen AKW vom Netz gehen werden. Das AKW Emsland sei für die Netzstabilität aber nicht erforderlich, sagte die Co-Vorsitzende Ricarda Lang der dpa. „Entsprechend halten wir den Weiterbetrieb für nicht notwendig.“ Ähnlich äußerte sich Co-Chef Omid Nouripour auf Twitter.
Die Partei von Finanzminister Christian Lindner begrüßte den Beschluss des Kanzlers - obwohl er auch hinter ihren Forderungen zurückblieb. Der energiepolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Michael Kruse, verbuchte die Entscheidung als Unterstützung für seine Partei. „Das Verhandlungsergebnis zeigt, dass sich gut begründete Positionen durchsetzen.“ Er erwartete als Folge auch sinkende Preise, weil das Signal gesendet werde, dass mehr Strom zur Verfügung stehen werde.
Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch kanzelte die Entscheidung von Scholz als „absurdes Schmierentheater“ ab. „Nach der Wahl in Niedersachsen und nach dem Bundesparteitag der Grünen kommt diese Entscheidung. Hier ging es weder um die Bürger, noch um die Versorgungssicherheit, sondern ausschließlich um die Egos von Habeck und Lindner“, sagte Bartsch den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Dienstag).
Auch bei der Union erntete Scholz für seinen Vorstoß Kritik. Seine Entscheidung sei kein Machtwort, sondern ein „Zeichen von Schwäche“, teilte die wirtschaftspolitische Sprecherin der Unionsfraktion, Julia Klöckner, mit. „Die Bürger und Unternehmen warten auf echte Entlastung, die nur durch ein Mehr an Energie erreicht werden kann.“
Update vom 17. Oktober, 21 Uhr: Die Grünen reagieren verhalten auf den angekündigten Weiterbetrieb der drei deutschen Atomkraftwerke. Die Fraktionsführung will zunächst über den Scholz-Plan beraten. „Wir nehmen zur Kenntnis, dass Bundeskanzler Olaf Scholz seine Richtlinienkompetenz ausübt“, erklärten die Fraktionsvorsitzenden Katharina Dröge und Britta Haßelmann in einem gemeinsamen Pressestatement. „Wir werden nun mit unserer Fraktion beraten, wie wir mit der Entscheidung des Kanzlers umgehen.“ Am Abend lief eine Sondersitzung in Berlin.
Es sei „bedauerlich“, dass Scholz und die SPD offenbar bereit seien, das AKW Emsland in den Reservebetrieb zu nehmen, „obwohl es sachlich und fachlich dafür keinen Grund“ gebe, so die beiden Fraktionschefinnen. „Klar ist jetzt, dass keine neuen Brennstäbe beschafft werden und alle deutschen AKWs bis spätestens zum 15.04.2023 endgültig vom Netz gehen.“
Co-Parteichefin Ricarda Lang sagte der Deutschen Presse-Agentur: „Das AKW Emsland ist für die Netzstabilität nicht erforderlich. Entsprechend halten wir den Weiterbetrieb für nicht notwendig.“ Die FDP sah sich derweil in ihrer Position bestätigt. FDP-Fraktionschef Christian Dürr sprach auf Twitter von „guten Nachrichten vor dem Hintergrund der Energiekrise“. Eigentlich wollten die Liberalen die AKWs bis 2024 laufen lassen. Auch FDP-Chef Christian Lindner begrüßte die Entscheidung.
Update vom 17. Oktober, 19.40 Uhr: AKW-Klartext vom Kanzler. Die drei verbliebenen Atomkraftwerke sollen bis 15. April 2023 am Netz bleiben. Das setzte Scholz mit Verweis auf seine Richtlinienkompetenz als Regierungschef durch (siehe Erstmeldung). Die Union, die stets den AKW-Weiterbetrieb gefordert hatte, ist unzufrieden.
Markus Söder zeigte sich enttäuscht von der Kanzler-Entscheidung. „Ist das alles? Was für eine Enttäuschung“, schrieb der CSU-Chef auf Twitter. Das Problem sei nur vertagt. „Das ist zwar eine Lösung im Ampelstreit, aber nicht für das Stromproblem in Deutschland“, argumentierte der bayerische Ministerpräsident und warnte: „Die Gefahr eines Blackouts im kommenden Jahr bleibt bestehen.“
Dabei übte Söder erneut Fundamentalkritik an der Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP: „Die Ampel nimmt weiter steigende Strompreise billigend in Kauf. Diese Koalition ist ein Risiko für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Die Grünen haben ihre Ideologie durchgesetzt und die FDP hat wieder einmal zu viel versprochen.“
Auch andere Unionspolitiker kritisierten die Entscheidung. CDU-Chef Friedrich Merz sprach in der Welt von einem unzureichenden Modell: „Die deutschen Atomkraftwerke müssen - wie es die FDP gefordert hat - bis 2024 mit neuen Brennstäben weiterlaufen.“
Thomas Kreuzer, CSU-Fraktionschef im bayerischen Landtag, ließ in einer Pressemitteilung verlauten: „Das war nur ein Machtwörtchen statt wirklichem Machtwort von Bundeskanzler Scholz. Seine Entscheidung kommt viel zu spät und ist nicht weitgehend genug. Der Betrieb der drei noch laufenden Atomkraftwerke müsste mindestens so lange fortgesetzt werden - notfalls auch mit neuen Brennstäben - bis die Atomkraftwerke nicht mehr zur Stromerzeugung gebraucht werden.“ Die AKW-Debatte scheint mit Scholz‘ Entscheidung erst richtig Fahrt aufzunehmen.
Erstmeldung vom 17. Oktober, 18.30 Uhr: Berlin - Im Atomstreit der Ampel-Koalition hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ein Machtwort gesprochen: Alle drei noch am Netz befindlichen deutschen Atomkraftwerke sollen bis Mitte April 2023 laufen können, heißt es in einem am Montag veröffentlichten Schreiben von Scholz an das Bundeskabinett. Der Kanzler berief sich dabei auf seine Richtlinienkompetenz innerhalb der Bundesregierung.
Konkret geht es um die Atomkraftwerke Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland. Letzteres sollte nach dem Willen von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) wie geplant zum Ende des Jahres vom Netz gehen. Die beiden anderen sollten bis zum 15. April auf Reserve weiterlaufen.
„Es wird die gesetzliche Grundlage geschaffen, um den Leistungsbetrieb der Kernkraftwerke Isar 2, Neckarwestheim 2 sowie Emsland über den 31.12.2022 hinaus bis längstens zum 15.4.2023 zu ermöglichen“, heißt es in dem Schreiben von Scholz an Habeck, Finanzminister Christian Lindner (FDP) und Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne), aus dem auch die Welt zitiert. Die Regierung solle ein „ambitioniertes Gesetz zur Steigerung der Energieeffizienz“ vorlegen. Außerdem wird gefordert, zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit auch die Voraussetzung für den Bau neuer „wasserstofffähiger Gaskraftwerke“ zu schaffen.
Weiter kommt zur Sprache, dass die politische Verständigung der Wirtschaftsministerien im Bund und Nordrhein-Westfalen mit dem Energiekonzern RWE zum Kohleausstieg im Rheinischen Revier „gesetzgeberisch umgesetzt“ werden solle. Die Vereinbarung dazu sieht unter anderem vor, zwei Braunkohlekraftwerke länger laufen zu lassen, bis 2024, aber den Kohleausstieg im Rheinischen Revier um acht Jahre auf 2030 vorzuziehen.
Scholz schrieb weiter, „parallel zu dieser Entscheidung“ solle ein ehrgeiziges Gesetz zur Steigerung der Energieeffizienz vorgelegt werden. In seinem Schreiben bittet Scholz die zuständigen Minister, „die entsprechenden Regelungsvorschläge dem Kabinett nun zeitnah vorzulegen“.
Lindner begrüßte Scholz‘ Entscheidung. „Es ist im vitalen Interesse unseres Landes und seiner Wirtschaft, dass wir in diesem Winter alle Kapazitäten der Energieerzeugung erhalten. Der Bundeskanzler hat nun Klarheit geschaffen“, teilte Lindner mit.
Tagelang hatten vor allem FDP und Grüne darum gestritten, ob und wie lange die drei noch laufenden Atomkraftwerke weiter betrieben werden sollen. Die Grünen hatten am Wochenende auf einem Parteitag beschlossen, nötigenfalls einen sogenannten Streckbetrieb für die Meiler Isar 2 und Neckarwestheim 2 bis Mitte April 2023 mitzutragen.
Die FDP wollte auch das dritte Atomkraftwerk Emsland am Netz halten und alle drei bis ins Jahr 2024 hinein laufen lassen. Gegebenenfalls sollten bereits stillgelegte AKW reaktiviert werden. Hintergrund der Debatte ist die Energiekrise und die damit einhergehende Problematik bei der Stromversorgung. (afp, dpa, mg)